Grundversorgung - Wie sich das Grundsicherungssystem weiterentwickeln könnte
Rezension zu „Grundsicherung weiterdenken“, hrsg. von Florian Blank et al.
„Grundsicherung weiterdenken“, so heißt der Titel eines 2021 in der Reihe „Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung“ erschienenen Sammelbands, der zeitlich kaum passender hätte erscheinen können. Im Zuge der Corona-Krise und des Ukraine-Kriegs wurde in der jüngsten Vergangenheit gleich mehrfach mit weitreichenden Änderungen im Grundsicherungsrecht experimentiert.
Auch wenn diese krisenbedingten Änderungen nicht im Fokus des Sammelbands stehen (konnten), so bietet das Buch eine gute Orientierung, in welche Richtung sich das Grundsicherungssystem weiterdenken lässt. Und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen verfolgt das Buch das Ziel „die Grenzen zwischen der Grundsicherung "im engeren Sinne" ... zu überschreiten und die Sozialversicherung ebenso wie andere sozialstaatliche Leistungen und die öffentlichen Infrastrukturen in die Überlegungen miteinzubeziehen“ (12). Zum anderen sollen Ideen formuliert werden, wie das bestehende Grundsicherungssystem und angrenzende Systeme der Daseinsvorsorge so weiterentwickelt werden könnten, dass sie dem normativ formulierten Anspruch an materieller und sozialer Teilhabe besser als bislang gerecht werden.
Konzeptionell schließt der Sammelband damit eine Lücke im sozialpolitischen Diskurs. Er hebt sich von den bislang dominierenden, mehr oder weniger kritisch angelegten Beschreibungen des Grundsicherungssystems ab. Er grenzt sich aber gleichzeitig explizit von Vorschlägen eines umfassenden Systemumbaus ab. Insbesondere zum bedingungslosen Grundeinkommen äußern sich gleich mehrere Autor*innen kritisch. Neben Beiträgen ehemaliger oder aktueller Forscher*innen des gewerkschaftsnahen WSI lassen sich im Sammelband Aufsätze einer ganzen Reihe renommierter Sozialpolitikforscher*innen wiederfinden.
Der Sammelband gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil widmet sich der Bestandsaufnahme des Grundsicherungssystems – wobei die Autor*innen bereits in diesem Abschnitt wichtige Impulse zum Weiterdenken der Grundsicherung liefern. Gerhard Bäcker beschreibt die Wechselbeziehungen zwischen Sozialversicherung und Grundsicherung – die gerade mit Blick auf mögliche Reformen nicht aus den Augen verloren werden dürfen. In gewohnt fundierter und kritischer Weise arbeitet Irene Becker im Anschluss das Verfahren zur Bestimmung von Regelleistungen auf und unterbreitet darauf aufbauend einen Vorschlag zur Ausgestaltung der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Kindergrundsicherung.
Der darauffolgende Beitrag von Florian Blank zum Asylbewerberleistungsgesetz hat durch den Ukraine-Krieg eine ganz besondere Aktualität. Blank beschreibt in seinem Beitrag die speziellen Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes und fragt kritisch, „inwiefern ein spezielles System überhaupt gerechtfertigt ist“ (101). Immerhin fallen die Leistungen im Umfang noch hinter die Regelleistungen des SGB II bzw. SGB XII zurück und stehen zudem einer Erwerbsintegration entgegen. Aus der Perspektive von Blank ist die für Juni 2022 angekündigte Öffnung des Grundsicherungssystems für ukrainische Geflüchtete sicher zu begrüßen.
Der verbleibende Teil des Buches (etwa 2/3 des Umfangs) widmet sich unter je eigener Themenstellung einem breiteren Begriffsverständnis von Grundsicherung. Als gemeinsamer Ausgangspunkt kann die These gelten, dass der im Grundsicherungsrecht normativ postulierte Anspruch materieller und sozialer Teilhabe durch das Grundsicherungssystem allein nicht abzudecken ist (siehe beispielsweise den Beitrag von Schäfer). Die Beiträge von Knuth und Spannagel heben die Rolle von Arbeit als Teilhabeinstrument hervor (Teil 2). Überzeugend zeigt Knuth die Diskursverschiebungen im Zusammenhang mit öffentlich geförderter Beschäftigung auf, die immer stärker unter Teilhabegesichtspunkten bewertet wird. Von Spannagel werden nach einer eingehenden Analyse von Aufstocker*innen Vorschläge unterbreitet, um deren Erwerbsarmut zu vermindern.
Im Anschluss (Teil 3) werden zentrale Bereiche sozialer Absicherung vorgestellt, die aus Sicht der Herausgeber*innen für ein erweitertes Grundsicherungsverständnis notwendig sind. Abgedeckt werden die Themenfelder digitale Infrastruktur (Klenk), öffentlicher Wohnungsbau (Dullien & Krebs), Gesundheit (Gerlinger), Beratung (Meißner) und Bildung (Banscherus). Die Leser*innen erhalten jeweils für sich lesenswerte Beiträge, in denen auf einer fundierten Analyse konstruktive Vorschläge zur Weiterentwicklung der jeweiligen Bereiche unterbreitet werden. Allerdings tritt das Grundsicherungssystem in den Beiträgen stark in den Hintergrund (mit Ausnahme des Beitrags von Meißner). Bezeichnenderweise nutzen Klenk und Gerlinger eher den Begriff der „Daseinsvorsorge“ statt Grundsicherung. Die Leser*innen erfahren mithin zu wenig über die Schnittstellen zwischen der Grundsicherung und den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Bildung und digitaler Infrastruktur und dem Reformpotential an diesen Schnittstellen.
Europäischer Kontext des Grundsicherungssystems
Im vierten Teil des Buches wird das Grundsicherungssystem in den europäischen Kontext gesetzt. Diese Einbettung ist unmittelbar sinnfällig, um einen Blick für mögliche Varianten, aber auch für die EU-rechtlichen Rahmenbedingungen zu erhalten. Der sehr lesenswerte Beitrag von Bahle skizziert die Mindestsicherungssysteme in den unterschiedlichen ‚Regimetypen’, die in der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung häufig nur randständig betrachtet werden. Aus der Darstellung der vielfältigen Systeme wird die im Beitrag von Bäcker herausgearbeitete Wechselwirkung zwischen bedürftigkeitsgeprüfter Mindestsicherung und anderen Sozialleistungen (etwa: Sozialversicherungen) sehr gut sichtbar. Wie in „kommunizierenden Röhren“ (247), so Bahle, führt ein Absinken vorgelagerter Sicherungssysteme zu einer Bedeutungszunahme der Mindestsicherung. Bei Reformen können und sollen daher die Sicherungssysteme nie solitär in den Blick genommen werden. Benz arbeitet im Anschluss die Regelungskompetenzen auf EU-Ebene von regulativer Politik bis zu weichen Instrumenten (wie der Offenen Methode der Koordinierung) heraus. Bei Hanesch wird am Beispiel der EU-Initiative zur Einführung einer Kindergarantie wieder explizit die Grundsicherung weitergedacht. Die Initiative möchte Kindern in den EU-Staaten den Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen sichern.
Anschlussfähiger Debattenbeitrag
Wird der Sammelband in seiner Gänze betrachtet, so ist den Herausgeber*innen ein erfrischender und für die Politikgestaltung anschlussfähiger Debattenbeitrag gelungen, der gleichermaßen relevant für Praktiker*innen der Sozialpolitik wie für Wissenschaftler*innen ist. Dass ein Sammelband, der über das bestehende Grundsicherungssystem hinausdenken möchte, immer auch Erwartungen an Themen erweckt, die dann nicht oder nicht in erhoffter Tiefe bearbeitet werden, sollte nicht überraschen. So liegt der Schwerpunkt des Buches deutlich auf der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Andere, perspektivisch an Bedeutung gewinnende Systeme wie die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung werden nicht separat behandelt. Ein Manko ist dagegen, dass sich im Sammelband kein Beitrag findet, der explizit an den Zugangshürden im bestehenden Leistungsrecht ansetzt. Gleich mehrere Beiträge sprechen zwar die sichtbarste Folge von Zugangshürden in Form hoher Nichtinanspruchnahmequoten an und machen deutlich, dass neben dem ‚Was’ an Leistungen auch das ‚Wie‘ des Leistungszugangs zentral für die Bewertung der Leistungsfähigkeit des Grundsicherungssystems ist. Wie sich allerdings ein Leistungsrecht auf administrativer Ebene so weiterdenken lässt, dass deutlich mehr Menschen von ihrem Leistungsanspruch Gebrauch machen, wird im Sammelband nicht diskutiert. Dabei wären einige der behandelten Themenkomplexe hoch anschlussfähig, um Veränderungspotentiale beim Zugang zur Grundsicherung aufzuzeigen (z.B. bei den Themen Digitalisierung, Beratung, internationaler Vergleich). Ungeachtet dieser einschränkenden Bemerkungen haben die Herausgeber*innen einen sorgfältig durchdachten Sammelband vorgelegt, der ausdrücklich zum Lesen empfohlen werden kann. Durch den Open Access Vertrieb geht das sogar kostenlos.
Prof. Dr. Felix Wilke (sozialpolitikblog) 2022, Grundversorgung - Wie sich das Grundsicherungssystem weiterentwickeln könnte, in: sozialpolitikblog, 02.06.2022, https://www.difis.org/blog/?blog=10 Zurück zur Übersicht
Prof. Dr. Felix Wilke ist seit September 2021 Professor für Soziologie am Fachbereich Sozialwesen an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena. Er hat an der Universität Kassel zum teilprivatisierten Alterssicherungssystem in Deutschland promoviert. Seine Forschungs- schwerpunkte liegen im Bereich der Soziologie der Sozialpolitik, der Ungleichheits- und Armutsforschung sowie in der Alterssicherung. Aktuell leitet er ein FIS-Forschungsprojekt zur Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen.
Bildnachweis: EAH Jena | Laura Körner 2021
Florian Blank, Claus Schäfer, Dorothee Spannagel (Hrsg.) Grundsicherung weiterdenken Bielefeld 2021: transcript Verlag | https://doi.org/10.1515/9783839455944