Pflegende Studierende: Versteckte Leben
Mehr als zehn Prozent aller Studierenden pflegen Angehörige. Für sie ist das häufig eine Belastung – doch das Umfeld bekommt meist wenig davon mit. Woran das liegt und wie sich es ändern lässt, damit befasst sich ein neues Forschungsprojekt.
Die kranke Großmutter gilt unter Dozierenden bei der Frage nach Fristverlängerungen für die Abgabe von Hausarbeiten in etwa als so glaubwürdig wie der vielzitierte Hund, der die Hausaufgaben gefressen hat. Dabei zeigen Daten der 22. Studierendenbefragung (Kroher et al. 2023), dass über zehn Prozent der Studierenden in Deutschland eine ältere Person – häufig Angehörige wie die eigenen Eltern, Schwiegereltern oder eben Großeltern – pflegen, betreuen oder unterstützen (im Weiteren: pflegende Studierende).
Herausforderungen für pflegende Studierende
Eine systematische Literaturanalyse (Knopf et al. 2022) hat folgende Herausforderungen für pflegende Studierende identifiziert:
- Gesundheitliche Belastung: Die Doppelbelastung aus Pflegeverpflichtungen und dem Studium führt zu Erschöpfung, Stress und einer insgesamt großen emotionalen Belastung.
- Soziale Beziehungen: Die Zeitknappheit und die emotionale Belastung können zu Spannungen in sozialen Nahbeziehungen, insbesondere zu Freund*innen und Familienmitgliedern, führen. Dies kann zu sozialer Isolation und Entfremdung von Kommilitonen führen.
- Finanzielle Schwierigkeiten: Aufgrund des Mangels an Zeit für entlohnte Nebentätigkeiten geraten pflegende Studierende oft in finanzielle Notlagen.
- Akademische Herausforderungen: Die begrenzten zeitlichen Ressourcen und die Erschöpfung erschweren die Teilnahme an Lehrveranstaltungen, die Beteiligung an Gruppenarbeiten und das Einhalten von Abgabefristen. Dies erhöht das Risiko, Prüfungen zu verschieben oder nicht zu bestehen, was zu einer Verlängerung des Studiums führen kann.
- Studienplanung und -anpassung: Pflegende Studierende müssen häufig ihre Studienpläne und -ziele an ihre Pflegeverpflichtungen anpassen, was möglicherweise zu einer Verlängerung der Studiendauer führt. Die Unsicherheit darüber, das Studium überhaupt abschließen zu können, belastet zusätzlich.
- Mangelndes Verständnis und Stigmatisierung: Pflegende Studierende stoßen oft auf wenig Verständnis für ihre besondere Situation seitens der Dozierenden und der Gesellschaft insgesamt. Die Angst vor Stigmatisierung und Stereotypisierung als weniger produktiv kann sie davon abhalten, offen über ihre Belastungen zu sprechen.
Allerdings sollte hier ein ausschließlich defizitorientierter Blick auf die Situation von pflegenden Studierenden vermieden werden. In Interviews haben pflegende Studierenden neben den Problemen, die aus der (Nicht)Vereinbarkeit von Pflege und Studium entstehen, auch von positiven Effekten der Pflegetätigkeit berichtet (Wazinski et al 2022). So intensivierten sich intergenerationale Beziehungen und die pflegenden Studierenden bauten soziale Kompetenzen auf und gewannen an Resilienz. Diese positiven Auswirkungen können jedoch nur entstehen, wenn pflegende Studierende ausreichend Unterstützung erhalten.
Ein Grund für die meist negativen Folgen ist, dass pflegende Studierende von Dozierenden, aber auch den Kommiliton*innen und dem Personal der Hochschulverwaltung, oft nicht gesehen werden – dass sie oft „versteckte Leben“ („Hidden Lives“) führen (Wazinski et al. 2022; Alsop et al. 2008) und Hochschulangehörige so wenig über die Herausforderungen von pflegenden Studierenden wissen.
Chrononormen als normative Grundpfeiler eines „normalen Lebenslaufs“
Wir argumentieren, dass gesellschaftliche und wohlfahrtstaatliche Chrononormen ein Hauptgrund dafür sind. Chrononormen sind geteilte Normen und Vorstellungen darüber, wann – das heißt, in welchem Alter – bestimmte Dinge im Lebenslauf passieren sollten, wann man etwa seine Ausbildung beendet haben oder in Rente gehen sollte (Freeman 2010). Chrononormen stellen also die normativen Grundpfeiler eines „normalen Lebenslaufs“ dar. Diese Normalitätsvorstellungen werden durch Institutionen und die entsprechenden Praktiken (re)produziert, stabilisiert und transformiert. Kohli (2007) hat dazu den Begriff des "institutionalisierten Lebenslaufs" geprägt, in dem zwischen (Aus-)Bildungsphase, Erwerbsphase und Freizeitphase unterschieden wird.
Wenn wir auf die Ausbildungsphase blicken, so ist diese einerseits von Bildungsinstitutionen wie etwa Universitäten und Ausbildungsstätten geprägt, andererseits gilt insbesondere das Studium in Deutschland traditionell als eine Phase der Freiheit von vielen sozialen Verpflichtungen sowie des Entdeckens und Experimentierens mit der eigenen Identität. Studierende mit Betreuungspflichten sind oft nicht in der Lage diesem idealisierten "studentischen Lebensstil' zu entsprechen und verstoßen damit gegen Chrononormen. Weil eine solche Devianz von Normalität oft mit Scham und Tabuisierung einhergeht, versuchen pflegende Studierende, ihre Pflegetätigkeit zu verbergen und führen daher „Hidden Lives“. Sie versuchen also, Anforderungen von allen Seiten – des Studiums, der Familie und der Peer-Group – zu entsprechen und haben dabei mit vielen Vereinbarkeitsfragen zu kämpfen.
Unterstützungsmöglichkeiten für pflegende Studierende
Was können Gesellschaften tun, um die Situation von pflegenden Studierenden zu verbessern?
Es braucht mehr Forschung: Der bisherige Forschungsstand in Deutschland, aber auch international, ist eher spärlich. Es braucht daher mehr Forschung und Wissen über die Lebenssituationen von pflegenden Studierenden, aber auch den Personen, die von jungen Menschen in (Aus-)Bildung gepflegt werden. Im Projekt InterCare, das ab Herbst 2024 von der Volkswagenstiftung gefördert wird, werden wir zusammen mit Kolleg*innen aus Polen und England daran arbeiten, diese Forschungslücke zu verkleinern.
Es braucht mehr Unterstützung von Bildungsinstitutionen: Die Hochschulen müssen Studium und Pflegetätigkeiten vereinbar machen – und dazu gehört als erstes anzuerkennen, dass es Studierende mit Pflegeverpflichtungen gibt. Pflegende Studierende wünschen sich eine Förderung des Bewusstseins für ihre Herausforderungen und bessere individuelle Unterstützung bei der Umsetzung flexibler Studienarrangements, sowie die Öffnung von existierenden Angeboten für z.B. pflegende Mitarbeiter*innen.
Es braucht mehr Unterstützung des Wohlfahrtsstaates: Pflegende Studierende sitzen zwischen den Stühlen. Sie können oft nicht so schnell und erfolgreich studieren, wie es notwendig wäre, um (finanzielle) Unterstützung (Bafög) zu erhalten, und Pflegetätigkeiten für Erwachsene gelten nicht als offizieller Nachteilsausgleichsgrund. Hier müssten institutionelle Regelungen geschaffen werden, die pflegende Studierende in der Vereinbarkeitsproblematik von Studium und Pflege unterstützen und so langfristig negative Auswirkungen – z.B. Abbruch des Studiums, geringe Jobchancen, etc. – verhindern oder abfedern.
Es braucht gesellschaftliche Akzeptanz und einen Wandel von Chrononormen: Der Idealtypus des Vollzeitstudierenden ohne Erwerbs- oder Care-Arbeit hat schon lange ausgedient. Doch Chrononormen sind träge. Von einem Wertewandel in Bezug auf „Normallebensläufe“ würden dabei nicht nur pflegende Studierende profitieren, sondern auch Studierende mit Kindern, Erwerbs- oder anderen Verpflichtungen – und darüber hinaus. Hier gilt es, vermehrt in Diskussion über die Verknüpfung bestimmter Erwartungen und Normen mit spezifischen Lebensaltern zu kommen und Aufmerksamkeit sowie Akzeptanz für Abweichungen von diesen Normen zu schaffen – denn genau sie können Potenziale für die Normalität der Zukunft aufzeigen.
Literatur
Alsop, R., Gonzalez-Arnal, S., & Kilkey, M. (2008). The widening participation agenda: The marginal place of care. Gender and Education, 20(6), 623–637.
Freeman, E. (2010). Time binds. Queer temporalities, queer histories. Durham: Duke University Press Books.
Kohli, M. (2007). The institutionalization of the life course: Looking back to look ahead. Research in Human Development, 4(3–4), 253–271.
Knopf, L., Wazinski, K., Wanka, A., & Hess, M. (2022). Caregiving students: A systematic literature review of an under-researched group. Journal of Further and Higher Education, 46(6), 822–835.
Kroher, M., Beuße, M., Isleib, S., Becker, K., Ehrhardt, M.-C., Gerdes, F., ... & Buchholz, S. (2023). Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2021. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Wazinski, K., Knopf, L., Wanka, A., & Hess, M. (2022). Invisible caregivers: The ‘hidden lives’ of German university students with care responsibilities. Zeitschrift für Hochschulentwicklung, 17(4), 217–233.
Anna Wanka und Moritz Heß 2024, Pflegende Studierende: Versteckte Leben, in: sozialpolitikblog, 18.04.2024, https://difis.org/blog/?blog=112 Zurück zur Übersicht
Dr. Anna Wanka ist Emmy-Noether Nachwuchsgruppenleiterin an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Alterskonstruktionen, Übergänge im Lebenslauf und der Reproduktion sozialer Ungleichheiten, Alter(n) und neue Technologien, praxistheoretische und neomaterialistische Perspektiven auf Alter(n) sowie Mixed-Methods-Forschung.
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Prof. Dr. Moritz Heß ist Professor für Gerontologie an der Hochschule Niederrhein. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Themen Alter und Erwerbstätigkeit, Altersdiskriminierung, Europäische Gesellschaften im Vergleich, Generationenbeziehungen, Pflege, quantitative Methoden und sozialen Ungleichheiten.
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