Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit: Ein Kommentar
Die SPD-Bündnis90/Die Grünen-FDP Regierungskoalition hat sich das Ziel gesetzt, bis 2030 die Wohnungslosigkeit in Deutschland abzuschaffen. Derzeit wird es für viele Menschen aber immer schwieriger an bezahlbaren Wohnraum zu kommen und Wohnungslosigkeit schrieb 2023 einen neuen Rekordwert. Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit beinhaltet wichtige Instrumente. Allein dabei kann es nicht bleiben.
Laut der zweiten Erhebung der Bundesregierung waren zum Stichtag 31. Januar 2023 gut 372.000 Menschen in Deutschland wegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit untergebracht. Zu dieser ‚Untergebrachten-Statistik‘ kommen zig Tausende Personen hinzu, die „verdeckt“ wohnungs- oder obdachlos, also nicht untergebracht sind und/oder im Kontakt mit dem Hilfesystem stehen. So schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), dass im Jahr 2022 sogar über 600.000 Menschen in Deutschland wohnungslos waren. Das Ausmaß und die sozialen Folgen dieser Misere stellen zweifelsohne eine soziale und humanitäre Krise in einem der reichsten Länder der Welt dar. Der Zielsetzung der Europäischen Union (EU) folgend, formulierte die Ampelkoalition bereits in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel, Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 abzuschaffen. Ein wichtiges Instrument zur Zielerreichung ist der Nationale Aktionsplan (NAP), der unter breiter und intensiver Beteiligung zahlreicher Stakeholder, inklusive Menschen, die Erfahrung mit Wohnungslosigkeit gemacht haben, diskutiert und erarbeitet und am 24. April 2024 vom Bundeskabinett beschlossen wurde.
Der NAP als Meilenstein?
Mit dem Auflegen eines NAP folgt Deutschland dem Beispiel vieler europäischer Nachbarländer, zu denen auch Dänemark und Finnland gehören – die einzigen beiden EU-Länder, in denen Wohnungslosigkeit rückläufig ist. Die breite Konsultation in der Ausformulierung des NAP für die Bundesrepublik Deutschland und die Willensbekundung, Wohnungs- und Obdachlosigkeit gesamtstaatlich anzugehen, soll hier ausdrücklich gewürdigt werden. Denn durch den NAP wird das Augenmerk auf ein äußerst komplexes, ressortübergreifendes, Bundes-, Landes und kommunalpolitisch anzugehendes Thema gelenkt. Mit der Ausformulierung konkreter Leitlinien steigt nicht nur der politische Handlungsdruck. Der NAP schmiedet zudem auch ein breites Bündnis wichtiger Akteure, die für die Bewältigung von Wohnungslosigkeit mobilisiert werden müssen und die Aufmerksamkeit in Öffentlichkeit und Medien wächst.
Im Vergleich zum letzten Armuts- und Reichtumsbericht (in dem Reichtum mit dem nebulös anmutenden Begriff der „Wohlhabenheit“ ersetzt bzw. verschleiert wurde) ist der NAP auch erfrischend direkt in der Benennung von Problemen: Wohnungslosigkeit ist ein Massenphänomen, das massiv – auch in Anbetracht der Zahlen – an Bedeutung zunimmt und mit gesellschaftlicher Ausgrenzung, extremer Armut und körperlicher Verelendung der betroffenen Menschen einhergeht. Auch die Gefahr für Wohnungslose, ausgebeutet zu werden, Gewalt zu erfahren und Opfer von Missbrauch bis hin zu Totschlag zu werden, wird nicht verschwiegen. Der NAP ist daher sicherlich als ein Meilenstein zu verstehen und dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – zeigen sich deutliche politische Spuren in der Schwerpunktsetzung des NAPs und der Ausformulierung der Lösungsansätze.
Mangel an ‚bezahlbarem‘ Wohnraum und die Bewältigung von Wohnungslosigkeit
Die Bundesregierung versteht Wohnungslosigkeit vor allem als ein strukturelles Problem und folgerichtig liegt die Verantwortung für die Strategie zu dessen Bewältigung im Ministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB). Konsequenterweise betont der NAP, dass Bevölkerungswachstum und seit Jahren steigende Mieten (relativ zu Löhnen) dazu führen, dass es zunehmend zu einer Konkurrenzsituation um „bezahlbaren“ Wohnraum kommt, in der Menschen in schwierigen Lebenslagen aufgrund von Vorurteilen und Diskriminierung kaum mehr Chancen haben (S.10). Diese Einschätzung trifft zwar den Kern des Problems. Gleichzeitig vermeidet der NAP es zu erwähnen, dass auch der Staat zu großen Teilen für diese Entwicklung verantwortlich ist, unter anderem da der Bestand an Sozialwohnungen seit Jahrzehnten stark rückläufig ist, wie die folgende Abbildung verdeutlicht:
Abb. 1: Index der Wiedervermietungsmieten inserierter Wohnungen (Euro/m2), der durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste und des Bestandes an Sozialmietwohnungen in Deutschland
Quellen: BBRS, Deutsche Bundestag, Statistisches Bundesamt; Darstellung, T.W.
Zudem bleiben Lösungsvorschläge zur Schaffung von dauerhaft günstigem Wohnraum, die von einer Mehrheit der Regierungsparteien getragen werden, unerwähnt. Beispielsweise wird im Koalitionsvertrag festgehalten, dass die Bundesregierung „zeitnah eine neue Wohngemeinnützigkeit mit steuerlicher Förderung und Investitionszulagen auf den Weg bringen [wird] und so eine neue Dynamik in den Bau und die dauerhafte Sozialbindung bezahlbaren Wohnraum erzeug[t]“ (S. 69). Im NAP erwähnt? Fehlanzeige. Auch ein Blick in europäische Nachbarländer hätte weitere Ideen liefern können, wie ‚bezahlbarer‘ Wohnraum geschaffen oder erhalten werden könnte.
Prävention von Wohnungslosigkeit als zentrales Ziel
Im NAP wird betont, dass in 47 Prozent der Fälle Mietschulden direkt oder indirekt zum Wohnungsverlust beitrugen (S. 11). Eine erschreckend hohe Zahl, mit der ein klarer Auftrag an die Politik einhergeht, nämlich nach Strategien zu suchen, den Verlust der Wohnung zu verhindern und damit Wohnungslosigkeit erst gar nicht entstehen zu lassen. Zur Lösung wird im NAP die Einrichtung Zentraler Fachstellen (ZF) hervorgehoben, die vor allem in Nordrhein-Westphalen (NRW) als effektives Instrument seit Jahren flächendeckend etabliert sind.
In NRW informieren Amtsgerichte die ZF als kommunale Handlungseinheit über Räumungstitel, woraufhin die ZF dann unabhängig vom Rechtskreis des jeweiligen Sozialgesetzbuches sofort handeln kann: Mitarbeitende der ZF können dann betroffene Mieter*innen aufsuchen und beraten oder die Übernahme von Mietschulden (üblicherweise als Darlehen ausbezahlt) ermöglichen. Damit wird der Informationsfluss beschleunigt und Fragen der fachlichen Zuständigkeit sind bereits im Vorfeld geklärt. Eine „win-win Situation“, da etwaige Zwangsräumungen nicht nur für Mieter*innen eine lebensverändernde Krisensituation darstellen, sondern auch für Vermieter*innen zeitaufwendig und kostspielig sind. Auch bei über Miet- und Energieschulden hinausgehenden Problemen mit Mieter*innen sollen Mitarbeitende einer ZF als Anlaufstelle von Vermieter*innen als Beratungs- und Mediationsstelle zum Einsatz kommen. Der Datenschutz stellt hierbei aber noch eine Herausforderung dar, für die es noch eine Lösung braucht.
Der Aspekt der Prävention von Wohnungslosigkeit zeigt im NAP aber dennoch Lücken. Denn unangetastet bleibt die Möglichkeit, dass Wohnraumeigentümer*innen weiterhin zeitgleich eine außerordentliche (fristlose Kündigung wegen Mietschulden) und ordentliche Kündigung aussprechen dürfen. Das kann dazu führen, dass die außerordentliche Kündigung durch die Übernahme der Mietschulden zwar „geheilt“ wird, die ordentliche Kündigung aber dennoch zum Verlust der Wohnung führt. Um hier eine Lösung zu erarbeiten, ist die Handlungsbereitschaft des Bundesministeriums der Justiz (BMJ) gefragt.
Besonders vulnerable Gruppen in der Wohnungslosigkeit
Der NAP unterstreicht, dass Wohnungslosigkeit gerade für Frauen mit einem hohen Risiko sexualisierter Gewalt ausgesetzt zu sein einhergeht: „Mehr als jede Dritte wohnungslose Frau musste bereits sexuelle Übergriffe und/oder Vergewaltigung seit Eintritt ihrer Wohnungslosigkeit erleben, bei Frauen ganz ohne Unterkunft jede zweite“ (S.12). Auch die besondere Notlage für EU-Bürger*innen wird betont, denn diese „leben vielfach unter besonders prekären Verhältnissen und sind überwiegend wohnungslos ohne Unterkunft“. Zudem betont der NAP, dass wohnungslose Menschen „deutlich erhöhte Raten psychiatrischer Erkrankungen“ aufweisen und von einer hohen Zahl an „traumabedingter psychischer Erkrankungen“ ausgegangen werden muss (S. 13).
Obgleich es löblich ist, dass diese Problemlagen ungeschönt beim Namen genannt werden, bleibt der NAP eine Antwort schuldig, wie und vor allem durch wen und über welche Gelder beispielsweise frauenspezifische Schutzorte eingerichtet werden sollen, wenn in Deutschland bereits jetzt schon vielerorts Frauenhäuser überbelegt und unterfinanziert sind? Wie soll ein geschlechts- und traumasensibler Umgang in der Wohnungslosenhilfe, den ordnungsrechtlichen Unterkünften und den kommunalen Behörden großflächig umgesetzt werden? Wie kann psychisch kranken und psychisch belasteten Menschen ohne Wohnsitz der Zugang zu ambulanten und stationären psychiatrischen oder psychotherapeutischen Hilfen ermöglicht werden? Denn selbst für krankenversicherte Personen stellen formale Hürden, fehlende Therapieplätze und lange Wartezeiten ein Problem dar, unter denen Menschen ohne Wohnsitz besonders leiden. Und wie kann EU-Bürger*innen mit nur stark eingeschränktem Zugang zu Sozialleistungen jenseits von den häufig in der Praxis nur befristeten Notunterkünften nachhaltig geholfen werden?
Durch die Auflistung dieser Fragen soll den im NAP aufgeführten Ansätzen keinesfalls die Wertigkeit aberkannt werden, denn – im Übergang – ist es beispielsweise absolut notwendig, den Zugang zu Notunterkünften flächendeckend auch für EU-Bürger*innen zu ermöglichen (wie es ohnehin das Gesetz vorsieht) und Mindeststandards in Notunterkünften zu etablieren (wofür das Deutsche Institut für Menschrechte bereits Leitlinien erstellt hat). Für eine nachhaltige Lösung braucht es aber auskömmliche finanzielle Mittel und daher wäre es wünschenswert gewesen, wenn auch das Bundesfinanzministerium fester Teil des NAP gewesen wäre. Gerade für besonders vulnerable Gruppen und mehrfachbeeinträchtige Personen stellt beispielsweise der Housing-First-Ansatz ein erfolgreiches Konzept dar. Dieses ist allerdings mit erheblichen Kosten verbunden, da neben der Schaffung von Wohnraum auch die intensive (wenngleich selbstbestimmte) Unterstützung durch interdisziplinäre Teams Teil des Erfolgskonzepts ist.
Fazit
Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit ist ein politischer Meilenstein und ein wichtiges Instrument zur Bewältigung von Wohnungslosigkeit. Neben der Wohnungslosenberichterstattung der Bundesregierung, bringt der Nationale Aktionsplan das Thema ins Rampenlicht von Politik und Gesellschaft und bringt eine Vielzahl wichtiger Akteure aus Politik, Verwaltung und Sozial- und Wohlfahrtsverbänden zusammen. Um das Ziel, Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 abzuschaffen, erreichen zu können, braucht es aber dringend eine weitere Konkretisierung der Verantwortlichkeiten für die Umsetzung der zahlreichen im Nationalen Aktionsplan genannten Forderungen (bspw. bei der Verabschiedung von Mindeststandards in der ordnungsrechtlichen Notunterbringung), die rasche Umsetzung der relevanten, im Koalitionsvertrag festgelegten Vereinbarungen (bspw. die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau) und eine auskömmliche Finanzierung (bspw. zur flächendeckenden Einrichtung von Zentralen Fachstellen oder geschlechtsspezifischen Angeboten).
Timo Weishaupt 2024, Der Nationale Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit: Ein Kommentar, in: sozialpolitikblog, 29.04.2024, https://www.difis.org/blog/?blog=116 Zurück zur Übersicht
Timo Weishaupt ist seit 2015 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik an der Georg-August-Universität Göttingen. Zuvor war er Juniorprofessor für die Soziologie des Wohlfahrtsstaates an der Universität Mannheim. Er promovierte 2008 an der University of Wisconsin-Madison. Zu seinen Forschungs- und Lehrschwerpunkten gehören Arbeitsmarktpolitik und -verwaltung, EU-Sozialpolitik sowie Wohnungspolitik und Wohnungsnotfälle. Von 2020 bis 2024 führe er ein DFG-Projekt zum Thema Wohnungslosigkeit durch.
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