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Auf einem hellblauen Hintergrund steht die schwarze Aufschrift "Thank you nurses". Drum herum liegen rote Herzen aus Pappe und Schokolade.
Heinz Rothgang, 21.07.2022

Der (Stellen-)Wert der Pflege

Pflege geht uns alle an. Jeder kann bereits morgen auf Krankenhausbehandlung angewiesen sein, und zwei von drei Männern sowie vier von fünf Frauen werden in ihrem Leben pflegebedürftig werden (Rothgang & Müller 2021: 65). An der gesellschaftlichen Bedeutung von „Pflege“ besteht also kein Zweifel. Aber schlägt sich das auch in einer entsprechenden Wertschätzung nieder? Und ist die Gesellschaft bereit, das zu tun, was getan werden muss, um gute Pflege in Zukunft sicherzustellen?


Durch die Corona-Pandemie hat „Pflege“ an Aufmerksamkeit gewonnen. Das Klatschen für die „Held*innen der Pflege“ in der ersten Pandemiewelle sollte Wertschätzung zum Ausdruck bringen – wurde aber von Teilen der Pflegekräfte bald als lediglich symbolische Handlung zurückgewiesen (Böhmer 2020) und verweist auf das ambivalente Verhältnis der Gesellschaft zu Pflege: Zwar wird dem Pflegeberuf in Umfragen regelmäßig ein hohes gesellschaftliches Ansehen bescheinigt (z. B. Allensbacher Berufsprestige-Skala 2013) – häufig aber verbunden mit dem Zusatz: „ich könnte das nicht“. Auf der Magnitude Prestige Skala (MPS), die nicht nur die gesellschaftliche Bedeutung des Berufs, sondern auch die Verdienstmöglichkeiten erfasst, wird Pflege, ebenso wie andere systemrelevante Berufe daher unterdurchschnittlich eingeschätzt (DIW 2020).

Pflege ist also wichtig, aber etwas, das andere tun sollten, die sich dazu berufen fühlen und auch mit geringerer Entlohnung zufrieden sind und für die eine symbolische Anerkennung daher als ausreichend angesehen wird. Diese Vorstellung wird dem Selbstverständnis der Pflegekräfte immer weniger gerecht und muss überwunden werden, um Pflege in Zukunft sicherstellen zu können.

Was genau ist mit „Pflege“ gemeint?

In Deutschland ist institutionell zwischen der Krankenhauspflege, der stationären Langzeitpflege (in Pflegeheimen) und der ambulanten Pflege zu unterscheiden. Krankenhauspflege ist Teil der Gesundheitsversorgung, wird über die Krankenversicherung finanziert und im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) normiert. Für Langzeitpflege, die in erster Linie, aber nicht ausschließlich Altenpflege ist, ist dagegen die in SGB XI geregelte Pflegeversicherung zuständig, während zugelassene ambulante Pflegedienste Leistungen nach beiden Gesetzbüchern erbringen und abrechnen – zu etwa gleichen Teilen.

Auch bei den Pflegeberufen gibt es entsprechende Unterschiede. Während staatlich anerkannte Altenpfleger*innen und Altenpflegehelfer*innen überwiegend in der Heimpflege tätig sind, werden Gesundheits- und Krankenpfleger*innen sowie Krankenpflegehelfer*innen sowohl in der Krankenhauspflege als auch in der ambulanten Krankenpflege sowie – zu geringeren Teilen – in der Heimpflege eingesetzt. Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger*innen wiederum finden sich überwiegend in der Krankenhauspflege, aber auch in der ambulanten Krankenpflege (Rothgang & Müller 2021: 101, 107). Mit dem Pflegeberufegesetz wurde die „generalistische Ausbildung“ für die drei genannten Pflegefachberufe eingeführt, und im Koalitionsvertrag ist die Schaffung eines bundeseinheitlichen Berufsgesetzes für die Pflegeassistenz zumindest angekündigt, so dass sich in Zukunft hier Vereinheitlichungen ergeben können.

Die Situation und auch die darin zum Ausdruck kommende Wertschätzung für die Pflege unterscheidet sich zwischen diesen Sektoren: In der Corona-Pandemie wurden zunächst die Krankenhäuser, und hier insbesondere die Intensivstationen in den Blick genommen. Zwischenzeitlich wurde die Zahl der mit Coronapatient*innen belegten Intensivbetten täglich in den Nachrichten berichtet, und die sogenannte „Hospitalisierungsinzidenz“ ist sogar zum Leitindikator der Lageanalyse erhoben worden. Insbesondere in der ersten Corona-Welle wurden auch die Pflegeheime betrachtet, weil Heimbewohner*innen besonders vulnerabel sind. Selbst basale Informationen wie der Anteil der Heimbewohner*innen an den mit Corona Verstorbenen ist in der amtlichen Statistik aber nicht valide und reliabel enthalten. Zwar hat das RKI die Anzahl der mit Corona verstorbenen Heimbewohner*innen in seinen täglichen Situationsberichten ab Ende April 2020 ausgewiesen – allerdings versehen mit dem Hinweis, dass für 25-30% der Verstorbenen keine entsprechenden Informationen vorliegen. Nachdem diese Information ab November 2020 für mehr als die Hälfte der Verstorbenen nicht mehr vorgelegen hat, hat das RKI diese Werte nicht mehr ausgewiesen.

Aus der Analyse der Routinedaten von Krankenkassen ergibt sich aber, dass für das gesamte Jahr 2020 etwa die Hälfte aller Todesfälle mit Corona auf Heimbewohner*innen entfällt (vgl. Rothgang et al. 2020; Kohl et al. 2021) – ohne dass das in der Öffentlichkeit entsprechend stark thematisiert wurde. Die Situation in der ambulanten Pflege wurde noch weniger diskutiert, obwohl die Zahl der Infizierten unter den beruflich Pflegenden in der ersten Welle doppelt so hoch war wie in der Gesamtbevölkerung.

Pflegenotstand - das zentrale Zukunftsproblem

Dieses Aufmerksamkeitsgefälle zeigt sich auch beim Umgang mit dem zentralen (Zukunfts-)Problem der Pflege: dem Mangel an Pflege(fach)kräften. Im Jahresdurchschnitt 2020 kamen auf 100 offene Stellen in der Krankenpflege nur 47 registrierte Arbeitslose. In der Altenpflege ist die Situation mit 26 Arbeitslosen für 100 offene Stellen sogar noch schlechter. Die Bundesagentur für Arbeit sieht daher in beiden Berufen deutliche bestehende Fachkraftengpässe (BA 2021: 17). Diese Engpässe werden sich in Zukunft noch verstärken. So weisen aktuelle Projektionen nur für die Langzeitpflege bereits für 2030 einen Pflegefachkraftbedarf auf, der den des Jahres 2020 um 68.000 Vollzeitstellen (=+21%) übersteigt (Rothgang & Müller 2021: 182).

Wie kann dieser Pflegepersonallücke entgegengetreten werden? Eine Lösungsoption wird in der gezielten Anwerbung ausländischer Pflegekräfte gesehen. Allerdings kann das zur Unterversorgung in den Herkunftsländern führen. Da alle EU-Länder über Pflegekräftemangel klagen, konzentrieren sich entsprechende Anstrengungen des Gesundheitsministeriums auf Nicht-EU-Länder wie den Kosovo, Mexiko und die Philippinen. Selbst in den Philippinen, die Pflegekräfte weit über den eigenen Bedarf hinaus ausbilden, gibt es aufgrund der Pflegemigration inzwischen aber einen Pflegekräftemangel. Angesichts des weltweit steigenden Bedarfs an Pflegekräften ist zu bezweifeln, dass gezielte Pflegekräfteimmigration allein das Problem langfristig lösen kann. Auch eine Entlastung der Pflegekräfte durch technische Assistenzsysteme kann letztlich nur in begrenztem Ausmaß helfen, da Pflege auf persönliche Beziehungen angewiesen ist. Notwendig ist es daher, den Beruf durch bessere Bezahlung und verbesserte Arbeitsbedingungen nachhaltig attraktiver zu machen. Entsprechende Maßnahmen können Auskunft über den tatsächlichen gesellschaftlichen Stellenwert der Pflege geben. Dies gilt umso mehr als Pflegekräfte nur einen geringen Organisationsgrad aufweisen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Entlohnung daher kaum selber erreichen.

Bei der Bezahlung zeigt sich wieder das Gefälle zwischen den Sektoren. So liegt der monatliche Medianbruttolohn einer vollzeitbeschäftigten Pflegekraft sowohl bei Fach- als auch bei Assistenzkräften in der Krankenpflege im Jahr 2020 um mehr als 500 Euro über dem in der Altenpflege (BA 2021: 8). Beide Bereiche weisen in den letzten Jahren aber überdurchschnittliche Lohnzuwächse auf.

Als Hauptgrund für das Ausscheiden aus dem Pflegeberuf werden in Befragungen regelmäßig die Arbeitsbedingungen genannt, insbesondere die zu geringe Personalbesetzung (Isfort et al. 2018: 80, Greß & Stegmüller 2016: 18 f.). Eine Personalmehrung ist insbesondere in der institutionalisierten Pflege eine zentrale Stellschraube. Auch hier wurden Verbesserungen erreicht, in der Krankenhauspflege stärker als in der Heimpflege: Gemäß dem 2019 in Kraft getretenen Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) werden die Pflegepersonalkosten in Krankenhäusern aus den Fallpauschalen herausgelöst und getrennt vergütet. Dabei gelten alle Pflegestellen grundsätzlich als notwendig und alle Tarife als wirtschaftlich. Pflegepersonalkosten werden für Krankenhäuser damit zu einem durchlaufenden Posten, was erhebliche Anreize setzt, die Stellenzahl zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag ist zudem das Einsetzen der Pflegepersonalregelung 2.0 als Übergangsinstrument vorgesehen, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege „schnell und spürbar“ zu verbessern. In der Heimpflege ist die Zahl der refinanzierbaren Pflegestellen bereits mit dem PpSG und dem 2021 in Kraft getretenen Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz erhöht worden, während die nächste Umsetzungsstufe des von 2017 bis 2020 entwickelten Personalbemessungsverfahrens für 2023 im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz vom Juli 2021 bereits normiert wurde. Die Definition ordnungsrechtliche Personaluntergrenzen ist indes den Ländern überantwortet worden, die hierfür noch einige Zeit benötigen werden. Im ambulanten Bereich ist hingegen nichts geschehen, so dass Pflege hier auch in Zukunft unter den Bedingungen von Akkordarbeit verrichtet werden wird.

Sicherstellung der Pflege erfordert einen breiten Diskurs

Anstrengungen zur Verbesserung der Lage in der Pflege werden also durchaus unternommen, allerdings ist das Reformtempo angesichts des demographisch bedingt rasant steigenden Bedarfs an Pflegekräften unzureichend. Zudem ist die Diskussion auf enge Expert*innenzirkel begrenzt. Notwendig ist jedoch eine breitere gesellschaftliche Debatte, die die Brücke zu Diskursen über Arbeit 4.0 im Zeitalter der Digitalisierung schlägt. Eine nachhaltige Sicherstellung der Pflegekapazitäten erfordert es, den Wegfall von Industriearbeitsplätzen zu nutzen, um Beschäftigung in personennahe Dienstleistungen wie die Pflege zu verlagern. Dies kann nur gelingen, wenn die Arbeit in diesen Sektoren attraktiv erscheint und sich der Wert, den die Gesellschaft der Pflege beimisst, in entsprechenden Arbeitsbedingungen und Entlohnungen niederschlägt.

Literatur

Böhmer, Nina, 2020: "Euren Applaus könnt ihr euch sonst wohin stecken", Hamburg, HarperCollins Verlagsgruppe


Heinz Rothgang 2022, Der (Stellen-)Wert der Pflege, in: sozialpolitikblog, 21.07.2022, https://difis.org/blog/?blog=16

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