Neubelebung der Sozialpartnerschaft aufgrund des Fachkräftemangels?
Lange Zeit war die Sozialpartnerschaft gerade in den stark wachsenden Bereichen der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) und der Langzeitpflege (LZP) wenig ausgeprägt. Nun aber scheinen sich die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitnehmer*innen zu verändern – insbesondere durch einen gravierenden Fachkräftemangel. Die Sozialpartnerschaft als enge Zusammenarbeit von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretungen hat wieder eine Chance, auch und gerade unter Berücksichtigung der Rolle des Staates, der sowohl in die Finanzierung und Regulierung als auch in die Erbringung der Dienstleistungen in diesen Bereichen eingreift.
Das von der Europäischen Kommission 2020-2022 geförderte Forschungsprojekt ‚SOWELL – Social Dialogue in Welfare Services. Employment Relations, Labour Market and Social Actors in the Care Services’ (VS/2020/0242) hat in sechs europäischen Ländern die Ausgangssituation, die Problemlagen von Fachkräftemangel und prekäre Arbeitsbedingungen sowie mögliche Lösungsansätze untersucht.
Die Teilstudie zu Deutschland hat ergeben, dass die in den letzten Jahrzehnten stark gewachsenen Care-Bereiche FBBE und LZP ähnliche Probleme aufweisen. Kennzeichnend sind Fachkräftemangel, zersplitterte Ausbildungsstrukturen, mäßige Entlohnung, hohe Arbeitsbelastungen und geringe Aufstiegschancen. Zugleich gibt es auf Arbeitgeber*innen- wie Arbeitnehmer*innenseite Organisationsdefizite: Die in beiden Bereichen wichtigen gemeinnützigen und privaten Träger sind nur zum Teil in Arbeitgeberverbänden organisiert oder wenden – wie im Fall der kirchlichen Träger – ein eigenes Arbeitsrecht an. Die untersuchten ‚good practice Beispiele‘ zeigen, dass eine funktionierende Sozialpartnerschaft, zentralstaatliche Regulierungen und Finanzierungsanreize helfen können, Probleme des Fachkräftemangels und der Arbeitsbedingungen auf kommunaler und regionaler Ebene erfolgreich anzugehen.
Arbeitssituation, Interessenvertretung und die Rolle zentralstaatlicher Regulierung
Die gesellschaftliche Relevanz des Kitabereichs und der Altenpflege ist spätestens seit der Covid-19-Pandemie unumstritten. Beide Bereiche haben in den vergangenen Jahren Aufwertungstendenzen erfahren, doch der Fachkräftemangel bleibt ein zentrales Problem. Bedingt durch die demographische Entwicklung wird in der Langzeitpflege der Personalbedarf bis 2035 auf 180.000 zusätzliche Pflegekräfte geschätzt (Rothgang/Müller 2021). Auch im Kita-Bereich besteht ein Personalmehrbedarf in Höhe von rund 70.000 Erzieher*innen bis 2025 (Rauschenbach et al. 2020), bei steigenden Anforderungen an die Personalzusammensetzung und Betreuungsqualität. Dies führt für die Beschäftigten zu einem steigenden Arbeitsdruck. Sie bemängeln, dass sie zu wenig Zeit für eine qualitativ hochwertige Pflege und Betreuung haben und so ihren eigenen Arbeitsansprüchen nicht gerecht werden können. Immerhin hat die Bundespolitik im Fall der stationären Altenpflege mit einer bedarfsgerechten Personalbemessung reagiert, deren erste Stufe im Juli 2023 eingeführt wird. Vergleichbare Regelungen für die ambulante Pflege und den Kita-Bereich fehlen jedoch weiterhin.Gleichzeitig ist in der Langzeitpflege das Lohnniveau insbesondere der Assistenzkräfte, ungeachtet gesetzlich bewirkter Lohnerhöhungen in den letzten Jahren, nach wie vor unterdurchschnittlich (Schroeder et al. 2022). Auch sind die Einkommensunterschiede zwischen Kranken- und Langzeitpflege weiterhin groß (Carstensen et al. 2021: 2; Rothgang et al. 2020: 160). Dies ist nicht zuletzt auf eine schwache Interessenvertretung zurückzuführen. So ist der Organisationsgrad unter den Beschäftigten aufgrund einer kleinteiligen betrieblichen Struktur, allgemeiner Erschöpfung sowie der Verantwortungszuschreibung an den Staat niedrig (Schroeder/Kiepe 2020). Hinzu kommen weitere Besonderheiten wie das bei den kirchlichen Trägern gültige Arbeitsrecht, das, mit Bezug auf ein christliches Arbeitsethos, Streikmöglichkeiten der Beschäftigten nicht vorsieht. Bei den quantitativ ebenso bedeutsamen privaten Anbietern ist selbst eine tarifgebundene Entlohnung bisher wenig verbreitet. Eine wirksame Interessenvertretung ist zudem dadurch erschwert, dass die privaten Anbieter kaum in Arbeitgeberverbänden organisiert sind. Inzwischen hat der Bundesgesetzgeber auf die geringe Entlohnung und Tarifbindung mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) reagiert. Diese Reform macht für die Pflegeanbieter eine Bezahlung nach Tarif, kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien oder dem durchschnittlichen regionalen Lohnniveau zur Voraussetzung für eine Refinanzierung der Kosten durch die Pflegeversicherung.
Im Bereich der FBBE, für den die Bundesländer zuständig sind, sind die Voraussetzungen für eine wirksame Interessenvertretung günstiger als in der LZP, denn es dominieren gut organisierte kommunale Träger und zentrale Tarifverhandlungen. In den letzten Jahren gibt es auch hier einen Aufwärtstrend bei der Entlohnung, vor allem dank erfolgreicher gewerkschaftlicher Organisationsprozesse (und Streiks) (Ver.di 2022). Strukturelle Probleme, wie die mit dem Kitaausbau fortbestehende Unterfinanzierung und unzureichende Betreuungsschlüssel, bleiben jedoch bestehen. Hierauf hat der Bundesgesetzgeber mit temporären Förderinitiativen wie dem Gute-KiTa-Gesetz reagiert (BMFSFJ 2022).
Aus ‚good practice‘ Beispielen lernen
Die in der Teilstudie zu Deutschland durchgeführten Fallstudien haben die Kernprobleme aufgegriffen und Beispiele guter Praxis untersucht. Dies waren im Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung Lösungen für Probleme der Personalbeschaffung (Personalausstattung und Ausbildungsstruktur) und im Bereich der Langzeitpflege Lösungen in Bezug auf die geringe Tarifbindung und defizitäre Interessenvertretung kirchlicher und privater Träger. Im Fokus standen vier Tarifabschlüsse in der LZP sowie zwei tripartistische Initiativen in der FBBE. In der LZP waren es Fälle, in denen sich erstmals auch kirchliche und private Träger auf teils überdurchschnittlich hohem Niveau tarifgebunden haben. Die Beispiele im Kita-Bereich zeigen, dass die bislang nicht entlohnte schulische Erzieher*innenausbildung durch betriebliche Formen attraktiver gestaltet wird, und Arbeitsdruck durch die Einführung zusätzlicher Zeiten für mittelbare pädagogische Arbeit, in Kitas in sozioökonomisch benachteiligten Stadtteilen, gemindert werden kann. Daraus ergeben sich wichtige Hinweise auf neue Trends in der Sozialpartnerschaft:- Sowohl in der LZP als auch in der FBBE wurde der Fokus auf die Zeitpolitik gelegt. So zielten einzelne Tarifverträge und tripartistische Maßnahmen auf die Einräumung ausreichender Zeit für gute Care-Arbeit sowie verlässliche(re) Arbeitszeiten, was entscheidend zu einer Verminderung von Arbeitsdruck und damit zu höherer Arbeitszufriedenheit beitragen kann.
- Bei den kirchlichen und privaten Trägern der Langzeitpflege entsteht zumindest auf lokaler Ebene eine steigende Bereitschaft zur Tarifbindung, überdurchschnittlichen Bezahlung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen, um qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei das GVWG, das die Tarifbindung fördert und als bundesstaatliche Ersatzhandlung für eine funktionierende Sozialpartnerschaft gewertet werden kann. Dabei erscheint das GVWG und auch die erhöhte Bereitschaft zur Tarifbindung der Arbeitgeber nicht als Resultat kraftvoller gewerkschaftlicher Kämpfe, sondern eher als Folge einer durch den Fachkräftemangel gestiegenen Verhandlungsmacht der Beschäftigten.
- Die Fallstudien zeigen zudem, dass es für Gewerkschaften sinnvoll ist, Mitglieder in kirchlichen und privaten Langzeitpflegeeinrichtungen zu werben.
- Staatliche Interventionen sind angesichts einer schwach ausgeprägten Sozialpartnerschaft in beiden Bereichen weiterhin notwendig. Wie auch im Kitabereich deutlich wird, hat der Bundesgesetzgeber Möglichkeiten, über Personalbemessungen und Qualitätsvorgaben der Dienstleistungserbringung Arbeitsbedingungen mitzugestalten.
Die Ergebnisse legen als Handlungsempfehlungen für Beschäftigte wie Arbeitgeber*innen nahe, dass diese sich weiterhin für eine Belebung und Ausweitung der Sozialpartnerschaft einsetzen sollten, um Arbeits- und Entlohnungsbedingungen in den Care-Bereichen zu verbessern. Darüber hinaus bleibt es für die Interessenvertretungen allerdings auch weiterhin wichtig, den Staat als regulativ und finanziell maßgeblichen Akteur zu adressieren, um strukturelle Probleme einer unzureichenden Infrastruktur bei den sozialen Dienstleistungen anzugehen.
Literatur
BMFSFJ (2022): Das Gute-KiTa-Gesetz (Stand 06.02.2023).
Carstensen, Jeanette; Seibert, Holger; Wiethölter, Doris (2021): Entgelte von Pflegefachkräften 2020. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung.
Rothgang, Heinz; Müller, Rolf; Preuß, Benedikt (2020): BARMER Pflegereport 2020: Belastungen der Pflegekräfte und ihre Folgen. Berlin: BARMER.
Rothgang, Heinz; Müller, Rolf (2021): BARMER Pflegereport 2021. Wirkungen der Pflegereformen und Zukunftstrends. Berlin: BARMER.
Schroeder, Wolfgang; Kiepe, Lukas (2020): Improvisierte Tarifautonomie in der Altenpflege. Zur Rolle von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Staat. In: APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte-Edition. Pflege. Praxis – Geschichte – Politik. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 214–226.
Schroeder, Wolfgang; Kiepe, Lukas; Inkinen, Saara (2022): Die Grenzen selbstorganisierten Handelns: attraktive Pflegeberufe durch Tarifautonomie? In: WSI-Mitteilungen 05/2022.
Ver.di (2022): Ergebnis bei Tarifverhandlungen für Sozial- und Erziehungsdienste. Pressemitteilung 18.05.2022 (Stand 09.11.2022).
Dr. Ruth Abramowski, Jennie Auffenberg und Prof. Dr. Karin Gottschall 2023, Neubelebung der Sozialpartnerschaft aufgrund des Fachkräftemangels?, in: sozialpolitikblog, 23.02.2023, https://www.difis.org/blog/?blog=51 Zurück zur Übersicht
Dr. Ruth Abramowski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Post Doc) in der Arbeitsgruppe Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Gender am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen
Forschungsschwerpunkte: Gender und Arbeit, Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, Europäisch vergleichende Sozialstrukturanalyse, Familiensoziologie, Soziale Ungleichheiten und Well-being
Dr. Jennie Auffenberg arbeitet als Referentin für Gesundheits- und Pflegepolitik im Bereich der Politikberatung der Arbeitnehmerkammer Bremen. Sie war zuvor sowohl in Forschungsprojekten zu den Themen der Arbeitsbeziehungen und Ökonomisierung der Daseinsvorsorge als auch in der praktischen Gewerkschaftsarbeit tätig.
Prof. Dr. Karin Gottschall, Professorin der Soziologie (pens.) und Leiterin der Arbeitsgruppe Arbeit, Wohlfahrtsstaat und Gender am SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen
Forschungsschwerpunkte: Strukturwandel von Erwerbsarbeit und Lebensformen, Staat als Arbeitgeber, Sozialstaatsreformen in den Bereichen Erziehung, Bildung und Pflegedienstleistungen
Das Projekt 'SOWELL – Social Dialogue in Welfare Services. Employment Relations, Labour Market and Social Actors in the Care Services' wurde 2020 bis 2022 von der Europäischen Kommission gefördert.
SOWELL erforscht Arbeitsbedingungen, Arbeitsbeziehungen und die Strategien der Sozialpartner für den Bereich der Pflege (frühkindliche Erziehung und Langzeitpflege) in Dänemark, Italien, Deutschland, den Niederlanden, der Slowakei und Spanien. Die Teilstudie für Deutschland wurde am SOCIUM der Universität Bremen durchgeführt und die Ergebnisse in Kooperation mit der Arbeitnehmerkammer Bremen mit einschlägigen Akteur*innen diskutiert.