sozialpolitikblog
Eine Darstellung des Lebenszyklus in schwarzweiß durch ein Baby, einem kleinen Jungen, einem Mann mit Aktentasche und Telefon und einem alten Mann mit Gehstock und Hut.
sozialpolitikblog-Gespräch 16.02.2023

Späte Freiheit

"Das Älterwerden ist für viele angstbesetzt. Aber wir sollten auch an die positiven Seiten des Alters denken: an Gelassenheit, späte Freiheit, möglicherweise auch an die Weiterentwicklung in Richtung Weisheit." Im sozialpolitikblog-Gespräch berichtet Clemens Tesch-Römer aus der Alternsforschung, von Befunden des deutschen Alterssurvey und beleuchtet drängende Forschungsfragen.


Interview: Pia Jaeger


Herr Tesch-Römer, Sie sind Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA) - was ist eigentlich Alter und wann beginnt es?

An der Alternsforschung beteiligen sich sehr viele Disziplinen. In der Biologie beispielsweise ist völlig klar, Alter beginnt eigentlich mit dem Ende der Reproduktionsfähigkeit. Das kann man dann noch für die Geschlechter unterschiedlich definieren. Es gibt aber sicher keinen richtigen klaren Schnitt nach Monaten und Jahren. Alter ist die Lebensphase, in der die Anfälligkeit für Erkrankungen, die Wahrscheinlichkeit zu sterben ansteigt. Soweit die Biologie. In der Soziologie wird vielfach die Dreiteilung des Lebenslaufs verwendet. Kindheit und Jugend, dann die Erwerbsphase, schließlich der Übergang in den Ruhestand als Beginn des Alters. Aber sicher muss man auch dort kritisch fragen: Was ist mit jemandem, der mit Anfang 50 eine Erwerbsminderungsrente erhält? Ist diese Person dann schon mit Anfang 50 alt, weil der Übergang in den Ruhestand erfolgt ist? Zudem vergisst die Soziologie leicht, dass es innerhalb dieser langen, langen Altersphase unterschiedliche Abschnitte gibt. Häufig wird dann zwischen einem aktiven dritten Lebensalter und einem fragilen vierten Lebensalter unterschieden. Aber auch das empfinde ich als eine sehr starke Schematisierung mit der Tendenz zur Altersdiskriminierung: das läuft darauf hinaus zu unterstellen, dass im hohen Alter alle Menschen pflegebedürftig und dement sind, was ja nicht zutrifft. Aber trotzdem lässt sich sagen, dass es eine Phase der späten Freiheit gibt: die ersten Jahre, manchmal auch Jahrzehnte des Ruhestands und dann erst treten funktionelle Einbußen auf und das Risiko der Pflegebedürftigkeit nimmt zu.

Welche Definition halten Sie für am besten geeignet?

Ich selber bin von der Herkunft Psychologe. Mich interessiert eigentlich gar nicht so sehr das Alter, sondern mich interessieren Veränderungen über die Lebensspanne. Vieles von dem, was in Kindheit, Jugend, mittlerem Erwachsenenalter passiert, reicht ja bis ins Alter hinein. Mich interessiert dieser Prozess der Veränderung mit dem Älterwerden. Und da ist es mir nicht so wichtig, wie man das Alter definiert und wo es beginnt. Im deutschen Alterssurvey beginnen wir ja auch schon, Menschen ab 40 einzuladen und zu befragen und dann zu begleiten, wenn sie älter werden. Wir fangen mit dem mittleren Erwachsenenalter an, um dann zu sehen, was passiert, wenn Menschen so langsam in diese Lebensphase “Alter” kommen.

Spielt das Rentensystem eine große Rolle für die Altersdefinition?

Der Übergang in den Ruhestand wird ja durch das Rentensystem bestimmt. Die Zahlungen aus der gesetzlichen Rente als der Haupteinkommensquelle sind die Voraussetzung dafür, dass man diese späte Freiheit überhaupt genießen kann. Immer mehr Menschen, die Rente beziehen, sind nebenher auch erwerbstätig. Darunter gibt es zwei große Gruppen: Leute, die Spaß haben zu arbeiten, die es gar nicht unbedingt des Einkommens wegen machen, und dann die, die das zusätzliche Geld brauchen.

Ist diese Phase sehr mit Angst behaftet?

Klar, alle wollen alt werden, keiner will alt sein. Keiner sagt das so, alle sind freundlich, wenn sie öffentlich über das Alter sprechen. Aber sobald wir Alterserscheinungen an uns bemerken, versuchen wir diese zu verbergen. Warum färbt man sich die Haare? Warum versucht man Hörgeräte nicht sichtbar zu machen? Ich habe zum Beispiel mit Ende 40 Hörgeräte bekommen, das hat mich für ein Jahr aus der Bahn geworfen, und zwar nicht so sehr, weil man sich ans Hören mit Hörgeräten gewöhnen muss, sondern wegen des Selbstbildes und des Hörgeräts als Zeichen des Alters. Das Älterwerden ist für viele angstbesetzt. Aber wir sollten auch an die positiven Seiten des Alters denken: an Gelassenheit, späte Freiheit, möglicherweise auch an die Weiterentwicklung in Richtung Weisheit. Wenn wir positiv über das Alter denken, kann uns das auch neue Möglichkeiten geben. Aber dabei müssen wir soziale Ungleichheit immer im Blick haben: Für diese positiven Seiten des Älterwerdens ist eine gute materielle und soziale Sicherung unerlässlich.

Welche Rolle spielt die Alternsforschung in der Sozialpolitikforschung?

Sie fragen jemanden, der Alternsforschung empirisch betreibt. Da liegt die Antwort auf der Hand: Die Alternsforschung spielt eine große Rolle. Ich hatte ja gerade schon den deutschen Alterssurvey erwähnt und ich glaube, was wir da machen, ist Sozialberichterstattung zur Lebenssituation von Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Diese wissenschaftliche Dauerbeobachtung brauchen wir für die Ausgestaltung von Sozialpolitik. Am besten wäre das natürlich, wenn man das komparativ machen könnte, also in verschiedenen Ländern, um sowas wie Wirkungen von wohlfahrtsstaatlichen Regelungen auf die Lebenssituation von Einzelnen zu untersuchen.

Warum erhält der Armuts- und Reichtumsbericht weit höhere Aufmerksamkeit im öffentlichen Diskurs als der Alterssurvey?

Naja, das Thema Armut ist für die Lebensphase Alter zentral. Mit dem Alterssurvey versuchen wir verstärkt in die Öffentlichkeit zu treten. Das Familienministerium, das BMFSFJ, ist hier ein starker Partner. Über die Altersberichte der Bundesregierung fließen Befunde aus dem Alterssurvey in den gesellschaftlichen Diskurs ein. Mit dem Alterssurvey, der nunmehr schon seit 1996 läuft, war auch eine Corona-Berichterstattung verbunden mit Erhebungen im Sommer 2020 und im Winter 2021. Da konnte direkt beobachtet werden, welche Veränderungen sich in bei Menschen in der zweiten Lebenshälfte ergeben haben. Anders als im öffentlichen Diskurs behauptet, sind nicht die älteren Menschen einsam geworden. Vielmehr sind alle einsam geworden. Ab 40 ist die Einsamkeit bei allen gestiegen. Und als das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hatte über die Angemessenheit der politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, wurde das DZA gefragt.

In der Pandemie war Alter stärker in den öffentlichen Fokus gerückt. Der Schutz der älteren Menschen wurde als Wert anerkannt. War das nur ein zwischenzeitlicher Effekt der Pandemie?

Alter, demografischer Wandel und Alterung der Gesellschaft sind seit mehr als 30 Jahren ein öffentliches Thema. Es hat mal weniger, mal mehr Konjunktur, und ich glaube, dass die Corona-Pandemie und die hohe Vulnerabilität der Älteren in medizinischer Hinsicht dazu beigetragen haben, eine neue Konjunktur auszulösen. Allerdings hat man übersehen, dass die Inzidenzraten bei den 60–85-jährigen, außer in den ersten Wochen und Monaten, die niedrigsten aller Altersgruppen waren. Die „jungen Alten“ wussten sich also zu schützen. Das Interessante in der Corona-Pandemie war aber auch, dass den Alten ein „benevolenter Ageismus“ zuteil wurde. Da hieß es dann „Wir müssen unsere Alten schützen und daher diktieren sie uns, wie wir zu leben haben“. Und daneben gab es auch sehr negative Aussagen. So wurde, häufig mit negativem Tonfall betont, dass die gesamte Bevölkerung Schutzmaßnahmen auf sich nehmen muss – und zwar nur wegen der Alten.

Glauben Sie, dass die Alternsforschung dazu beiträgt, dass wir unser Bild vom Altern verändern?

Da bin ich etwas pessimistisch. Die Alternsforschung kann viel über die Folgen von Altersbildern sagen. So zeigen Studien, dass diejenigen, die ein positives Altersbild haben, tatsächlich mehrere Jahre länger leben als Personen mit einem negativen Altersbild. Aber ob man damit das Altersbild korrigiert? Alle Kampagnen zur Veränderung des Alters, die wir sehen, haben ein bisschen den Charakter von Propaganda. Und ich glaube, das lässt die Leute kalt, oder es wird sogar ins Negative verkehrt. Die Plakat-Ausstellung “Wer rastet, der rostet” mit Fotos des Fotografen Karsten Thormaehlen mit Menschen von Mitte 50 bis über 80 in Sportausrüstung. Eishockeyspieler, Kletterer, Langläuferinnen und so weiter. Wenn man genau hinguckt, dann sieht man, dass das Personen sind, die ihr Leben lang z.B. Fechterinnen waren, man sieht, dass viele Sportarten darunter sind, die Geld kosten, und dass diese Sportarten ausgeübt werden von typischen Vertreter*innen der Mittelschicht. Personen, die mit 80 anfangen Nordic Walking zu machen – das wären eigentlich die interessanten Beispiele und die gibt es in dieser Kampagne nicht. Ich glaube nicht, dass die Alternsforschung viel zu Veränderungen beitragen kann. Ich glaube, es braucht so etwas wie Rollenmodelle, authentische Rollenmodelle des Alterns, wo Menschen sagen können, ja so möchte ich auch alt werden, das finde ich positiv, das ist eine Möglichkeit des Älterwerdens.

Sie hatten zu Beginn unseres Gesprächs schon darauf hingewiesen, dass Alter in verschiedenen Disziplinen erforscht werde: Welche Rolle spielt denn Interdisziplinarität in der Alternsforschung?

Interdisziplinarität halte ich nicht für einen Wert an sich, es kommt wirklich auf die Fragestellung an. Es gibt disziplinäre Forschung, die besser gar nicht zu machen ist, auch nicht interdisziplinär. Die experimentelle Alternsforschung mit genetisch identischen Mäusen ist disziplinär und hoch relevant, um biologisches Altern zu verstehen. Sobald man aber über den Einfluss von Umwelt etwas mehr wissen möchte, könnte eine Psychologin und ein Soziologe und eine Politikwissenschaftlerin möglicherweise etwas zur biologischen Alternsforschung beitragen. Ich bin schon ganz froh, dass es solche multidisziplinären Ansätze gibt.

In den Städten werden Pflege- und Altenheime immer weiter an den Rand gedrängt, weil gerade in den Innenstädten der Wohnraum immer teurer wird. Wie kann man für ältere Menschen die Lebenswelten besser gestalten?

Ich will noch einmal zurückkommen auf die Rente. Ich glaube, das Allerwichtigste ist: die Rente muss auskömmlich sein. Wenn die Rente nicht auskömmlich ist, dann kann man Lebenswelten gestalten, wie man will. Aber auch der Kontext, in dem wir leben ist wichtig für das Älterwerden. Städte brauchen, damit sie lebendig sind, eine gesunde Mischung an Generationen, an Wohnen und auch an Arbeit. Da viele Menschen im hohen und sehr hohen Alter zumindest teilweise Mobilitätseinschränkungen erfahren, benötigen sie eine Infrastruktur, die stimmt, also Geschäfte in der Nähe, ebenso Gesundheitsdienstleistungen und Ärzt*innen, Pflegeberatungsstellen und Mehrgenerationenhäuser, also sowas wie Nachbarschaftseinrichtungen, wo man hingehen und einen Plausch halten kann und so etwas wie Plauderbänke, Bänke sind schließlich auch ein Kommunikationsmittel.

Könnte das dazu beitragen, Einsamkeit im Alter zu vermeiden?

Ein Alters-Stereotyp lautet, dass alle alten Menschen einsam seien. Das stimmt aber nicht, wenn man chronische Einsamkeit genauer definiert. Wir verwenden einen kurzen Fragebogen mit sechs Aussagen, darunter “Ich habe niemanden, dem ich vertrauen kann” und “Ich habe niemanden, der mich tröstet”. Chronische Einsamkeit liegt nach unserer Definition dann vor, wenn eine Person bei der Mehrzahl der Aussagen angibt, dass diese ziemlich zutreffen. Diese Gruppe der chronisch einsamen Menschen umfasst etwa 10 bis 15 Prozent. Also keinesfalls die Mehrheit. Die Zahl steigt auch nicht mit dem Alter. Aber epidemiologisch ist dies eine ziemlich große Gruppe, auf die man zugehen muss. Und was mit der Einsamkeit im Alter das Besondere ist, ganz ähnlich wie bei der Altersarmut: Wer einmal hineingerät, der hat geringe Chancen wieder herauszukommen. Schlimm wird es insbesondere dann, wenn die Einsamkeit lähmt, wenn die Einsamkeit verhindert, dass ich auf andere zugehe. Man muss eine Kultur des Hinschauens schaffen, damit man sich auch um die Nachbarn kümmert. Das halte ich für ganz wichtig. Infrastruktur ja – aber nicht nur räumlich, sondern auch im Sinne einer integrierenden Nachbarschaftskultur.

Gibt es grundlegende Unterschiede zu anderen europäischen Ländern in den Alterungsprozessen?

Europa ist recht langsam alt geworden, China dagegen durch die Ein-Kind-Politik sehr viel schneller. Die negativen Altersbilder sind gerade in den Gesellschaften mit einer schnellen demographischen Alterung wie China besonders stark ausgeprägt. Unterschiede zwischen den europäischen Ländern gibt es natürlich. Italien und Deutschland sind die demografisch ältesten Länder in Europa. Schweden ist auch relativ alt. Und wenn Sie sich diese drei Länder angucken, dann sehen sie große Unterschiede in den sozialpolitischen Regelungen – auch in der Stärke der pflegerischen Unterstützung durch den Staat. In Schweden ist das zwar zentralstaatlich geregelt, aber die Ausgestaltung liegt dann bei den Kommunen und die Ausgestaltung in den Kommunen ist doch stärker auf die Unterstützung von älteren Menschen ausgerichtet, die in privaten Haushalten leben. In Deutschland ist es immer noch so, dass vier Fünftel der Pflegebedürftigen zu Hause leben und zumindest von der Familie mit unterstützt werden. Und in Italien ist das noch stärker der Fall. Auch bei einer demografisch ähnlichen zusammengesetzten Bevölkerung machen sozialpolitische Regelungen einen großen Unterschied, was die Integration von älteren Menschen mit Pflegebedarf in die Gesellschaft betrifft.

Gibt es im internationalen Vergleich auch überraschende Befunde?

In einer Studie wurden die Niederlande und Italien miteinander verglichen[1]. Der Anteil der Einpersonenhaushalte ist in den Niederlanden viel höher als in Italien. In Italien wohnen viele Ältere mit ihrer Familie zusammen. Und wenn man sich anguckt, wie die Einsamkeitsraten sind, ist genau das Gegenteil von dem der Fall, was man erwarten würde: In den Niederlanden sind sie niedriger als in Italien. Das hat natürlich etwas mit der Kultur zu tun. Diese ist viel stärker familienzentriert in Italien als in den Niederlanden. Die Erwartungen, dass sich die Kinder um mich als alte Person kümmern, ist in Italien viel stärker ausgeprägt als in den Niederlanden. Und dort, wo die Erwartungen hoch sind, ist die Enttäuschung größer, wenn die Kinder sich nicht in dem Maße um mich kümmern, wie ich das eigentlich erwarte. Und darüber hinaus trägt in den Niederlanden die Einbindungen in Vereine und Organisationen dazu bei, sich nicht einsam zu fühlen – auch dies ein Unterschied zum familienzentrierten Italien.

Was sind momentan die dringlichsten Fragen der Alternsforschung?

Darüber kann man wirklich streiten. Aus meiner persönlichen Sicht würde ich zwei große Themenkomplexe nennen wollen. Die erste Thematik lautet: Wie können älter werdende, demografisch sich wandelnde Gesellschaften weiterhin produktiv und innovativ sein? Seit langem wird prophezeit, dass die Bevölkerung in Deutschland kleiner wird, aber das ist in den letzten zehn Jahren gar nicht der Fall gewesen. Es gab ein leichtes Wachstum aufgrund von Einwanderung. Aber irgendwann wird die Bevölkerung in Deutschland kleiner werden und dann ist natürlich die Frage: Wie kommen Gesellschaften damit ökonomisch zurecht?  Kann man eine Ökonomie der Schrumpfung entwickeln und trotzdem innovativ und produktiv bleiben?

Und das zweite Thema lautet: Wie kommen wir mit der Zunahme an pflegebedürftigen Menschen klar, insbesondere mit Blick auf Demenz? Und zwar nicht im Sinne einer reinen Versorgung, wie sie in der Pflegeversicherung konzipiert ist. Wir fangen ja nur die Not am Ende des Lebens auf. Wir sollten an diese Frage aber eher unter Aspekten wie Lebensqualität, Partizipation, veränderte Formen von Partizipation, Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit, gerechte Verteilung von Pflegetätigkeiten zwischen den Geschlechtern herangehen. Dazu eine kleine Anekdote aus dem Umfeld des 4. Altersberichts, mittlerweile läuft schon der neunte Altersbericht. Im vierten Bericht, noch Altenbericht genannt, ging es um die Risiken der Hochaltrigkeit, die nach gängigem Verständnis zwischen 80 und 85 Jahren beginnt. Der Bericht war fast erstellt, da sagte jemand aus der Kommission, wir haben ja noch gar nicht über Sterben und Tod gesprochen: Eine Kommission, die sich zusammengesetzt hatte, um über das hohe Alter zu reden, hatte kollektiv vergessen, über Sterben und Tod zu sprechen. Sterben und Tod, sind Themen, die selten in der sozialpolitischen Debatte berücksichtigt werden. Es ist aber wichtig zu fragen, was die Voraussetzungen, die sozialpolitischen Rahmenbedingungen sind, das Sterben als gutes, menschenwürdiges Sterben gestalten zu können.

Würden Sie sagen, dass sich unser Altersverständnis ändert? Durch die Heraufsetzung der Regelaltersgrenzen zum Beispiel?

Ich bin mir nicht sicher, ob sich unser Altersverständnis durch die Heraufsetzung der Regelaltersgrenzen verändern wird. Hier gibt es meines Erachtens zunächst den Effekt einer erhöhten sozialen Ungleichheit. Weil Menschen mit geringem Einkommen kürzer leben als Menschen mit einem höheren Einkommen, erhalten sie proportional viel weniger als Menschen mit höherem Einkommen. Die Regelaltersgrenze hochzusetzen, würde diese Ungleichheit noch verstärken. Aber dennoch stehen wir vor einem Dilemma: Die Lebenserwartung nimmt zu, sowohl die gesunde als auch die kranke. Wir leben länger und wir leben länger gesünder. Aber die Zeit der Pflegebedürftigkeit bzw. der Krankheit vor dem Lebensende nimmt nicht ab. Deshalb ist es auch sinnvoll, über eine Generationensolidarität ‘Alt für Alt’ nachzudenken: mehr Nachbarschaftshilfe in der Pflege und der Unterstützung der Anderen. Warum nicht Ältere, die fit sind, mit der Unterstützung von Älteren betrauen? Wenn man so ansetzt, dann könnte das vielleicht doch Folgen für unser Altersbild zeitigen.

 

[1] Van Tilburg, T., De Jong Gierveld, J., Lecchini, L., & Marsiglia, D. (1998). Social integration and loneliness: A comparative study among older adults in the Netherlands and Tuscany, Italy. Journal of Social and Personal Relationships, 15(6), 740-754


Clemens Tesch-Römer 2023, Späte Freiheit, in: sozialpolitikblog, 16.02.2023, https://difis.org/blog/?blog=50

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