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Call for Papers "Sozialpolitik als öffentliche Daseinsvorsorge"

Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung konzentriert sich bislang vor allem auf Nationalstaaten und hier häufig auf die etablierten Sozial(versicherungs)systeme. Das ist eine Beschränkung, durch die wichtige Teile der Sozialpolitik und generell der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeblendet bleiben. Wir möchten auf unserer Jahrestagung insbesondere Forschungsbeiträge diskutieren, die die bisherige Perspektive in zweierlei Hinsicht erweitern: indem sie bisher eher unbeachtete soziale Politiken und/oder die substaatliche Ebene in den Blick nehmen.

Nicht erst die Debatten um „new social risks“ (Taylor-Gooby), die „Ökonomie des Alltagslebens“ (Foundational Economy Collective) und „investive Sozialpolitik“ (Hemerijck) haben deutlich gemacht, dass der Sozialstaat mehr ist (und sein sollte) als die Absicherung typischer Arbeitnehmer*innen-Risiken. Tatsächlich wird der „Sozialversicherungsstaat“ schon lange durch Infrastrukturen, andere Transfersysteme und soziale Dienstleistungen ergänzt. Viele davon bestanden teilweise sogar schon vor dem Beginn moderner Sozialpolitik. Dazu zählen insbesondere öffentliche und karitative Hilfeleistungen, die durch die Kommunen sowie kirchliche oder weltanschauliche Wohlfahrtsverbände z.B. im Bereich der Armenfürsorge entwickelt und angeboten wurden. Heute spielen zudem Konzepte wie das Quartiersmanagement oder die Sozialraumorientierung eine zunehmend wichtigere Rolle. Und nicht zuletzt war der Sozialstaat schon immer in den Kommunen und Regionen mit Institutionen sozialer Sicherung präsent, beispielsweise mit Verwaltungsstellen und Direktionen.

Die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, zu denen die Versorgung der Bevölkerung mit Infrastrukturen und Netzwerkgütern wie Wasser, Strom und Gas, die Abfallentsorgung sowie der öffentliche Personennahverkehr zählen, erhalten aktuell neue Aufmerksamkeit. In dieser ‚kritischen Infrastruktur‘ zeigen sich Mängel infolge von Privatisierungen und Sparmaßnahmen ebenso wie Gefahren durch das Aufkommen neuer Risiken (Naturkatastrophen, Pandemien, Cyberangriffe). Die sozialen Dienstleistungen, die sich im Spannungsfeld neuer sozialer Bedarfslagen und marktlicher Steuerungslogiken (weiter-)entwickelt haben, befinden sich bereits seit einigen Jahren im permanenten Krisenmodus. Gleichzeitig ist ihre Relevanz im Kontext der Corona-Pandemie ein weiteres Mal deutlich geworden, bspw. mit Blick auf die Gewährleistung sozialer Dienstleistungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Verschiebungen zwischen den Ebenen und Politikbereichen treten in unterschiedliche Richtungen auf: in Richtung einer Kommunalisierung ebenso wie einer Zentralisierung oder zunehmenden Verflechtung und partiell sogar einer Transnationalisierung sozialpolitischer Verantwortlichkeiten. Quer zu diesen Befunden lässt sich eine Verschärfung räumlicher Differenzen zwischen Stadt und Land zeigen. Beide sind mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert, die durch eine nationalstaatliche Sozialpolitik nur unzureichend abgedeckt werden (können). Stark migrantisch geprägte Stadtviertel mit hoher Arbeitslosigkeit und/oder schwierigen Wohnungsmärkten stehen beispielsweise vor ganz anderen Herausforderungen als ländliche Gebiete, in denen selbst die grundlegende Infrastruktur zum Teil nicht mehr vorhanden ist (wie Schulen, Arztpraxen oder Bahnhöfe).

Wir laden zur Einreichung von Beiträgen ein, die in zweierlei Hinsicht die bisherige Sozialstaatsforschung weiterzuentwickeln und zu transformieren helfen: indem sie vernachlässigte Policies in den Blick nehmen und/oder die nationalstaatliche Ebene ergänzen. Dabei sind vergleichende Beiträge herzlich willkommen. Insbesondere laden wir Sie ein, Beiträge zu den folgenden oder angrenzenden Bereichen einzureichen:

  • Welche sozialpolitischen Verschiebungen im Hinblick auf Sektoren, Regulierungsebenen und/oder Formen der Leistungserbringung lassen sich erkennen? Welche Rolle spielen dabei die öffentliche Daseinsvorsorge und die sozialen Dienste?
  • Lassen sich Verschiebungen zwischen den Anbietern sozialer Leistungen beobachten, beispielsweise eine Ausweitung regionaler oder kommunaler Programme im Bereich sozialer Dienste oder Grundsicherungsleistungen als Reaktion auf Retrenchment nationaler Transfersysteme oder als neue Formen der Krisenbewältigung?
  • Wie verhalten sich diese sozialpolitischen Entwicklungen zu Trends wie Vermarktlichung oder Privatisierung sowie Digitalisierung und dem demographischen Wandel? Welche Entwicklungen folgen langfristigen Trends und politischen Planungen, welche sind ad-hoc-Reaktionen auf Schocks und Krisen?
  • Welche Prozesse der (De-)Zentralisierung lassen sich für verschiedene Politikbereiche identifizieren? Welche (Krisen-)Logiken stehen hinter diesen Trends?
  • Wie lassen sich die Lücken der national orientierten Wohlfahrtstaatsforschung schließen und wie lässt sich zugleich der Heterogenität der sub-nationalen Organisationseinheiten im Ländervergleich gerecht werden?
  • Der AK Wohlfahrtsstaatsforschung lädt Wissenschaftler*innen dazu ein, Beiträge, die eine oder mehrere der genannten Fragen behandeln, einzureichen. Wir möchten insbesondere auch Wissenschaftler*innen am Beginn ihrer Karriere zu Einreichungen ermuntern. Um eine Bewerbung mit Abstract (max. eine Din A4-Seite) wird bis zum 17.03.2023 gebeten an: michaela.schulze(at)hdba.de . Abstracts und Beiträge können in deutscher und englischer Sprache eingereicht werden; die Tagungssprache ist deutsch. Eine Veröffentlichung ausgewählter Beiträge ist geplant.

Für Rückfragen stehen die Sprecher/innen des AK Wohlfahrtsstaatsforschung zur Verfügung:

Prof. Dr. Diana Auth (diana.auth@sw.hs-fulda.de)
Dr. Florian Blank (florian-blank@boeckler.de)
Prof. Dr. Michaela Schulze (michaela.schulze@hdba.de)
PD Dr. Jana Windwehr (jana.windwehr@fu-berlin.de)

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