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Call for Abstracts "Der Sozialstaat als „Sortiermaschine“: Kategorien und Kategorisierungsprozesse in der Sozialpolitik"

Im funktional ausdifferenzierten Sozialstaat hat sich eine Vielzahl rechtlich voneinander getrennter institutioneller Bereiche herausgebildet, die individuelle Risiken, Problemlagen und Hilfebedarfe mit unterschiedlichen Kategorien und Verfahren erfassen, bewerten und bearbeiten. Rechtlich gesehen folgen die sozialen Sicherungssysteme dabei dem sogenannten juristischen Syllogismus: Wenn sich ein bestimmter Sachverhalt unter eine bestimmte „Tatbestandsvoraussetzung“ subsumieren lässt (Behinderung, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsminderung etc.), dann treten als Rechtsfolge bestimmte Leistungsberechtigungen im Sinne individueller Statuszuweisungen und Rechtsansprüche ein, die zu sozialstaatlichen Geld-, Sach- und Dienstleistungen führen, aber möglicherweise auch mit spezifischen Verhaltenserwartungen und Gegenleistungspflichten der Adressat*innen verbunden sind.

Die Anerkennung eines Hilfebedarfs und einer daraus resultierenden Leistungsberechtigung basiert auf spezifischen Begutachtungs-, Klassifizierungs- und Kategorisierungsprozessen, in deren Rahmen spezialisierte Expert*innen auf der Grundlage standardisierter Verfahren individuelle Problem- und Bedürfnislagen unter bestimmte Kategorien subsumieren- von der Zuweisung von Pflegegraden, der Ermittlung des Grades der Behinderung, der Anerkennung einer vollen oder teilweisen Erwerbsminderung, der Diagnose einer Krankheit gemäß ICD 11 etc. bis hin zur Vergabe von Schullaufbahnempfehlungen oder der Feststellung von Förderbedarfen im Bildungssystem.

Der Sozialstaat wirkt somit nicht nur als großer Umverteilungsapparat, sondern auch als allgegenwärtige Sortiermaschine (Steffen Mau): Je nachdem, in welche spezifische Kategorie wohlfahrtsstaatliche Adressat*innen eingeordnet werden, werden Wünsche und Bedarfe anerkannt oder abgewiesen, Zugänge zu sozialstaatlichen Leistungen eröffnet oder verwehrt, soziale Rechte gewährt oder verweigert; auf diese Weise werden nicht selten auch langfristig wirksame bildungs- und erwerbsbiografische Weichenstellungen vorgenommen. Im Rahmen dieser Zuweisungsprozesse werden implizit oder explizit immer auch normative Wertungen und damit verbundene Vorstellungen von Zugehörigkeit (belonging) und Unterstützungswürdigkeit (deservingness) transportiert.

Da institutionelle Kategorien und Verfahren letztlich auf sozialen Konstruktionen basieren, die sich in machtdurchsetzen Interaktionsprozessen herausbilden, befinden sich sozialstaatliche Kategoriensysteme in einem kontinuierlichen Wandel; so ist es in den letzten Jahren u.a. in den beiden Bereichen Behinderung und Pflegebedürftigkeit, aber auch in vielen anderen Bereichen zu mehr oder weniger substanziellen Veränderungen gekommen. Sozialstaatlicher Wandel kann insofern auch als Wandel der sozialpolitischen Kategoriensysteme und Kategorisierungsverfahren analysiert werden.
Die Tagung soll sich der theoretischen und empirischen Analyse sozialstaatlicher Kategoriensysteme und Kategorisierungsprozesse aus verschiedenen Perspektiven widmen. Vorschläge für Vorträge können u.a. die folgenden, beispielhaft aufgeführten Themenbereiche adressieren:

  • Analyse gesellschaftspolitischer Diskurse und sozialpolitischer Fachdebatten im Hinblick auf kategoriale Grenzziehungen und Grenzverschiebungen, normative Leitbilder und implizite oder explizite Verständnisse von „Normalität“ und „Abweichung“, von „(non-)deservingness“ etc.,
  • Analyse der historischen Genese und des Wandels sozialrechtlicher Kategorien und der damit verbundenen Konsequenzen für die (potenziellen) Leistungsberechtigten und Adressat*innen, u.a. im Hinblick auf Prozesse der Inklusion/Exklusion, subjektiv wahrgenommene Diskriminierungen und Stigmatisierungen oder langfristige biografische Auswirkungen,
  • Analyse innerorganisatorischer Kategorisierungs- und Fallbearbeitungsprozesse in der alltäglichen Vollzugswirklichkeit der Sozialadministration, beispielsweise im Bereich der Arbeitsverwaltung, der Sozialhilfe, der Rentenversicherungsträger oder der Kinder- und Jugendhilfe, z.B. im Hinblick auf das Verhältnis von gesetzlichen Vorgaben und faktischen Beurteilungs- und Ermessensspielräumen der street level bureaucrats,
  • Analyse der möglichen Auswirkungen des verstärkten Einsatzes standarisierter Instrumente (z.B. „Ampelsysteme“) und digitaler Technologien (Algorithmen) im Rahmen sozialstaatlicher Begutachtungs- und Kategorisierungsverfahren,
  • Internationale und vergleichende Perspektiven auf sozialstaatliche Kategorien und Klassifizierungen, bspw. auch im Kontext von Globalisierung und Europäisierungsprozessen, sowie auf die öffentliche Akzeptanz von wohlfahrtsstaatlichen Handlungskategorien und Unterstützungsprinzipien.
Wir freuen uns über aussagekräftige Abstracts im Umfang von maximal 500 Wörtern. Einreichungen von Forschenden in der Qualifikationsphase sind besonders willkommen. Bitte schicken Sie Ihre Beitragsvorschläge bis zum 20.03.2022 an Stefanie Börner (stefanie.boerner@ovgu.de) und Antonio Brettschneider (antonio.brettschneider@th-koeln.de).

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